Die Lebenslüge der „Nation“ – ihre Geschichte und Ursachen, sowie ihre Formen in „modernen“ Gesellschaften. (Teil 2)
3 Welche Verstärkermechanismen für den Nationalgedanken finden sich in unserer Gesellschaft?
Die
Idee der nationalen Einheit hat es bis heute das Zusammenleben
multinationaler Gesellschaften und die respektvolle Anerkennung
gleichberechtigter Anderer erschwert.1
Selbst heute noch hat der Nationalismus (auch wenn er oft versteckt
daher kommt) das Ziel vorherrschende Heterogenität zu überwinden.2
„Überall will der Nationalismus die verlorene Einheit des Werte-
und Normensystems mit seiner Doktrin wieder herstellen.“3
Nichtsdestotrotz
kam nach dem Zweiten Weltkrieg die Idee eines „europäischen
Nationalstaats“ auf, der sich auf die gemeinsame Geschichte, die
gemeinsame europäische Traditionen und eine gemeinsame Philosophie
stützt.4Für
viele Deutsche könnte das ein Versuch gewesen sein, der eigenen
nationalen Vergangenheit zu entkommen.5
Doch
es muss konstatiert werden, dass Europa sich nie für etwas,
sondern immer nur gegen etwas zusammenschließen hat können.6
Weil man sich vornahm, es nie wieder zu einem Krieg auf dem
europäischen Kontinent kommen zu lassen, entschied man sich zur
Abwehr gemeinsamer Gefahren und gründete den Staatenverbund der
Europäischen Union.
Aber
leider gehört es „zu den größten Enttäuschungen der
Nachkriegszeit, dass trotz beachtlicher wirtschaftlicher und auch
politischer Integrationserfolge das Prinzip des (einheitlichen)
Nationalstaats unerschütterlich seine Rechte behauptet hat.“7
Das lässt darauf schließen, dass der Nationalismus noch keine
überholte Ideologie darstellt,8
wie sich das Renan erhofft hatte. „Im Historischen Gedächtnis der
Europäer steht (...) immer noch ihre nationale Identität im
Vordergrund; wie man den Wald manchmal vor Bäumen nicht sieht,
nehmen die Europäer ihren Kontinent vor lauter Nationen nicht
wahr.“9
Die Zustimmung zu Europa sinkt nachweislich in der Bevölkerung und
Europa wird zunehmend als Ärgernis betrachtet.10
Einen weiteren blutigen Beweis für das erneute Aufflammen des
Nationalismus, stellen die Konflikte im ehemaligen Gebiet
Jugoslawiens dar.11
Das
Fazit dieser Entwicklungen muss deshalb leider lauten: „Ebensowenig
wie die Nationalstaaten sind die Nationen überwunden.“12
Arno
Gruen geht davon aus, dass ein Zusammenhang besteht, zwischen der
kindlichen Entwicklung, genauer der Entwicklung einer
Nicht-Identität, und dem gesellschaftlich-politischem Verhalten
dieser Menschen als Erwachsene.13
Kinder, die tiefgreifende Unterdrückung und Ablehnung erfahren
haben, die diese Opferrolle aber aufgrund ihrer Überlebenssicherung
verleugnen müssen, entfremden sich von ihrem Selbst; sie entwickeln
eine Nicht-Identität.14
Das eigene Erleben der Opferrolle muss als etwas Fremdes verleugnet
und verdrängt werden.15
Das kann dazu führen, dass die Verachtung anderer zur Basis einer
Identität wird, der das Eigene fehlt. Diese Menschen brauchen dann
das Fremde, um das eigene Fremde bestrafen zu können.16
Es wurde festgestellt, dass an die 16% der Menschen Feindbilder für
die Aufrechterhaltung ihrer Persönlichkeitsstrukturen brauchen.17
Diese Menschen lassen sich auch besonders stark von paranoiden
Ängsten anstecken, vor allem in Zeiten der Unsicherheit, weil sie
sich von gesellschaftlichen Veränderungen bedroht fühlen.18
Jede Veränderung der Statusstrukturen wird dann von ihnen als
Bedrohung empfunden.19
„Der Verlust des inneren durch Entfremdung führt dazu, dass
Menschen ihren verlorenen Teil suchen, indem sie sich anderer
bemächtigen, diese niedermachen und als Feinde zerstören.“20
Hitler gilt für Arno Gruen als extremes Beispiel für einen dieser
Menschen.21
Hitler (und der Nationalismus prinzipiell) bot die Möglichkeit, den
verhassten inneren Fremden nach außen zu verlagern, indem er den
Menschen vermeintliche Feinde offerierte.22
So konnten sie den Hass ohne Schuldgefühle entäußern.23
In diesem Jahrhundert war nach Meinung Arno Gruens das Ausmaß von
Entfremdung und Nicht-Identität besonders groß.24
Eine
Selbstfindung durch die Identifikation mit einem Führer oder einer
Nation kann nämlich dazu führen, dass Hass als Liebe legitimiert
wird.25
„Aus Liebe zum Vaterland darf man morden.“26
Für
diese Menschen bildet die Nation den Sinn ihres Lebens und gibt ihnen
Sicherheit.
4
Thilo Sarrazin und sein Geschichtsbewusstsein als exemplarischer
Vertreter des „Nationalgedankens“
Thilo Sarrazin fürchtet Unsicherheit,
Veränderung und das Fremde. Wehler beschreibt, dass eine Entlastung
der Individuen durch innere Vollendung der nationalen Einheit
gelingen könnte.27
Genau dies fordert auch Sarrazin – die homogene Gruppe einer
deutschen Gesellschaft. Im Sinne Arno Gruens ist davon auszugehen,
dass Thilo Sarrazin zu den Menschen mit einer Nicht-Identität
gehört, die sich vor gesellschaftlichen Veränderung bedroht fühlen.
Es scheint als brauche auch er Feindbilder, um seine
Persönlichkeitsstruktur aufrecht erhalten zu können.
Da
Sarrazin viel Zustimmung in der deutschen Gesellschaft erhalten hat,
ist seine Denke exemplarisch für einen breiten Teil unseres Landes.
Deswegen gilt es zu überlegen, welches Geschichtsbewusstsein hinter
den Aussagen Thilo Sarrazins steckt.
Thilo
Sarrazin fordert: Menschen sollen „sich als Deutsche fühlen.“28
Deutschland soll eingebettet sein „in ein Europa der
Vaterländer“29
und die deutsche Sprache soll erhalten bleiben.30
Thilo
Sarrazin konstruiert damit klar abgrenzbare „Wir-“ und
„Ihr-Identitäten“. Dabei sieht er sich der traditionellen
Solidargemeinschaft der deutschen Nation zugehörig. Dass es sich
dabei jedoch um eine gedanklich konstruierte „Wir-Identität“, im
Sinne eines niemals erreichbaren einheitlichen Nationalvolks,
handelt, scheint ihm nicht klar zu sein.
Herr
Sarrazin führt außerdem aus, dass es Migration immer geben solle,
„vorausgesetzt, sie (die
Migraten) fügen sich der
Kultur des Gastlandes und werden schließlich ein Teil von ihr.“31
Diese
Aussage setzt voraus, dass der Kultur oder Religion des Migranten
eine geringere Wertigkeit beigemessen wird als der eigenen – eine
ethnozentristische und überhebliche Vorstellung, da der eigenen
Kultur eine höhere Wertigkeit zugeschrieben, die nicht angetastet
werden darf.
„Demografisch
stellt die enorme Fruchtbarkeit der muslimischen Migranten eine
Bedrohung für das kulturelle und zivilisatorische Gleichgewicht im
alternden Europa dar.“ Unsere
Kultur wird „intelektuell
verkümmern“32
„Wer wird in 100 Jahren
Wanderers Nachtlied noch kennen?“33
Sarrazin
schürt ganz deutlich Überfremdungsängste. Das Fortbestehen der
deutschen Nation wird in Frage gestellt. Bezüglich dieser Aussagen
lässt sich die geschichtsdidaktische Kategorie des traditionellen
Sinnbildungsmusters34
erkennen. Der Aspekt der Dauer wird vor den des Wandels gestellt. Die
Ordnung der Lebensverhältnisse aus der Vergangenheit sollen auch in
der Zukunft noch Gültigkeit haben.
„Alle
Juden teilen ein bestimmtes Gen, Basken haben bestimmte Gene, die sie
von anderen unterscheiden.“35
Oft spricht Sarrazin von Kultur, meint aber Gene oder gar Rassen. Das
wird bei Aussagen, wie eben genannter besonders deutlich. Das er sich
damit auf historisch wackeliges Terrain begibt, scheint ihm nicht
klar zu sein. Deshalb lässt sich vermuten, dass bei ihm die
geschichtsdidaktische Kategorie der Reflexivität weniger ausgeprägt
sein könnte.
Es
kommt aufgrund von Aussagen wie letztgenannter (siehe auch folgendes
Zitat Sarrazins) zum Verschwimmen des biologischen Rassismus und des
kulturellen Rassismus. Sarrazin selbst würde sich jedoch mit dem
Verweis auf sein Verständnis Deutschlands als einer Kulturnation
jeglicher Rassismusvorwürfe entziehen.
„Der
Beitrag auch der besten Bildung wird durch die angeborene Begabung
und den Einfluss einer bildungsfernen Herkunft begrenzt. Ich könnte
dazu auch Darwin zitieren.“36
Sarrazin
spricht (muslimischen) Einwanderern pauschal einen Aufstiegswillen ab
und sieht sie aufgrund ihrer erblichen Veranlagung auch nicht in der
Lage, ihre Bildungssituation und somit ihre soziale Stellung zu
verbessern.
Abgesehen
davon, fällt an vielen Stellen in Sarrazins Werk auf, dass der
Mensch hier in erster Linie als Kostenfaktor erscheint. Auch ein
Aspekt, der an die Zeit des Nationalsozialismus und das Dritte Reich
erinnert, ohne von ihm reflektiert zu werden.
Meistens
spricht Sarrazin in seinem Werk vom „Staat“, doch wenn man seine
Argumente genauer untersucht, muss festgestellt werden, dass Sarrazin
eigentlich von einer Nation
spricht.37
Die Unterscheidung von Staat und Nation scheint wohl nicht vollzogen
worden zu sein.
Letztendlich
ist ein Mangel an empirische Triftigkeit in Sarrazins Aussagen zu
erkennen. Zum einen erwiesen sich manche Feststellungen fachlich als
falsch,38
zum Anderen erscheinen Statistiken, die die Demographie eines Landes
beschreiben, zwar zunächst ein mal als einfach und verlässlich (die
Demographie kommt als scheinbar unwiderlegbar daher). Eine Gefahr
bei der Nutzung dieser Daten besteht allerdings darin, die
demographische Entwicklungen für die nächsten 100 Jahre
fortzuschreiben und daraus apokalyptische Szenarien zu entwickeln.39
Und genau diesen Fehler begeht auch Sarrazin indem, er Szenarien für
Deutschland in 100 Jahren ermittelt.
In welche Richtung wird sich die Gesellschaft
in Zukunft entwickelt? Können wir uns von dem Gebilde des
Nationalstaats bald verabschieden? Der Soziologe Niklas Luhmann ging
schon seit Anfang der 1980er Jahre nicht mehr von der Existenz von
Nationalstaaten aus, die mit dem sozialen System der Gesellschaft
identisch sein könnten.40
Bei Luhmann bildet die Kommunikation die Grundeinheit sozialer
Systeme und da aufgrund der Entwicklung neuer
Kommunikationstechnologien die Möglichkeit gegeben ist, weit über
Ländergrenzen hinaus zu kommunizieren, könne das soziale System
Gesellschaft deshalb nicht mehr durch nationalstaatliche Grenzen
bestimmt werden.41
Gleichzeitig wird jedoch aus soziologischer
Sicht erkannt, dass es im Zuge der Globalisierung auch zu
Re-Nationalisierungstendenzen kommt. Als „problematisch“ für die
nationale Wir-Identität wird dabei das Verschwimmen von Grenzen
zwischen deutsch und nicht-deutsch genannt:42
Fußballspieler der deutschen Nationalmannschaft oder
Parlamentsabgeordnete mit türkischem Namen und deutschem Pass,
perfekt deutsch sprechende Jugendliche ohne deutsche
Staatsangehörigkeit, oder deutschstämmige Aussiedler mit deutschem
Pass, die nur gebrochen deutsch sprechen. Durch diese komplexen
Elemente in der Gesellschaft werde es zunehmend schwieriger eine
nationale Wir-Identität zu bestimmen.43
Dies führe zu einer Verunsicherung, die wiederum in ökonomisch
schwierigen Zeiten besonders schwer auszuhalten sei.44
Die Bedrohung der kollektiven Identität führe dann zu einer
stärkeren Betonung der nationalen Identität und es komme zu
fremdenfeindlichen Einstellungen.45
In eine andere Richtung zeigte Ernest Renans
Vorstellung aus dem Jahr 1882. Er ging davon aus, dass es möglich
sei trotz Vielfalt geeint zusammenleben zu können. Das einzige
Kriterium dazu sei ein übergeordneter gemeinsamer Wille.46
Dazu müsste erreicht werden, dass auch
Migranten sich als Mitglied der in-group fühlen können. Das wäre
dann der Fall, wenn Zugehörigkeit, Geborgenheit und das Gefühl,
dass das Handeln des Einzelnen in und für diese Gruppe seiner
Existenz Sinn verleiht.47
Im Geschichtsunterricht muss es vor allem
darum gehen, durch die geschichtsdidaktischen Prinzipien
Multiperspektivität, Gegenwartsbezug, Fremdverstehen und
Alteritätserfahrung den zukünftigen Gestaltern unserer
Gesellschaft das nötige Geschichtsbewusstsein mit auf den Weg zu
geben.
Die
Schüler/-innen sollten nicht in ethische Denkmuster versetzt werden,
beispielsweise durch die Anfertigung eines Stammbaums. Hier könnte
fälschlicherweise Biologie und Kultur vermischt werden. Der Gedanke
der Abstammung, die Blutlinie darf nicht als Blutsverhängnis und
als Definition von Zukunft daherkommen. Weiterhin sollte auch auf die
besondere Darstellung „großer Helden“ einer Nation verzichtet
werden. Stattdessen sollte die Vermittlung des Verständnisses für
andere Denkweisen und Wertvorstellungen an erster Stelle stehen und
damit das Fremdverstehen, als auch das Selbstverstehen, gefördert
werden.48
Den Schülern sollte klar sein, was eine Nation von einem Staat
unterscheidet. Inwieweit Feindbilder und Konflikte von Stereotypen
überschüttet sind, oder wie die Herausforderungen multinationaler
Gesellschaften gemeistert werden können, können durch die
Prinzipien Perspektivwechsel und Gegenwartsbezüge im Unterricht
thematisiert werden.49
Beachtet
man auch Arno Gruens Feststellungen zur Entwicklung von
gesellschaftspolitischen Verhaltensweisen, sollten für Kinder
Bedingungen schaffen, in denen sie Liebe, Anerkennung und Mitgefühl
erleben können. „Liebe ist der Nährboden für unsere Geschichte“,
so Arno Gruen.50
Menschen, deren potentielles Selbst entfremdet wurde, sind auf äußere
Regeln und feste Rahmenbedingungen angewiesen.51
Für den Umgang mit Menschen ohne innere Identität bedeutet das in
erster Linie Grenzen setzen.
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Bernd/Topcu, Özlem: Sind Muslime dümmer?, Interview mit Thilo
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Völkel,
Bärbel (2007): Steinzeitmänner
gingen auf die Jagd, die Frauen wuschen Wäsche. Kategorien und
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Hans-Ulrich: Nationalismus. Geschichte, Formen, Folgen. 3. Auflage.
München C. H. Beck
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