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Dienstag, 18. Juni 2013

Die Lebenslüge der „Nation“ – ihre Geschichte und Ursachen, sowie ihre Formen in „modernen“ Gesellschaften. (Teil 2)


 

Die Lebenslüge der „Nation“ – ihre Geschichte und Ursachen, sowie ihre Formen in „modernen“ Gesellschaften. (Teil  2)

3 Welche Verstärkermechanismen für den Nationalgedanken finden sich in unserer Gesellschaft?

3.1 Ein gesamteuropäischer Nationalstaat?


Die Idee der nationalen Einheit hat es bis heute das Zusammenleben multinationaler Gesellschaften und die respektvolle Anerkennung gleichberechtigter Anderer erschwert.1 Selbst heute noch hat der Nationalismus (auch wenn er oft versteckt daher kommt) das Ziel vorherrschende Heterogenität zu überwinden.2 „Überall will der Nationalismus die verlorene Einheit des Werte- und Normensystems mit seiner Doktrin wieder herstellen.“3

Nichtsdestotrotz kam nach dem Zweiten Weltkrieg die Idee eines „europäischen Nationalstaats“ auf, der sich auf die gemeinsame Geschichte, die gemeinsame europäische Traditionen und eine gemeinsame Philosophie stützt.4Für viele Deutsche könnte das ein Versuch gewesen sein, der eigenen nationalen Vergangenheit zu entkommen.5

Doch es muss konstatiert werden, dass Europa sich nie für etwas, sondern immer nur gegen etwas zusammenschließen hat können.6 Weil man sich vornahm, es nie wieder zu einem Krieg auf dem europäischen Kontinent kommen zu lassen, entschied man sich zur Abwehr gemeinsamer Gefahren und gründete den Staatenverbund der Europäischen Union.

Aber leider gehört es „zu den größten Enttäuschungen der Nachkriegszeit, dass trotz beachtlicher wirtschaftlicher und auch politischer Integrationserfolge das Prinzip des (einheitlichen) Nationalstaats unerschütterlich seine Rechte behauptet hat.“7 Das lässt darauf schließen, dass der Nationalismus noch keine überholte Ideologie darstellt,8 wie sich das Renan erhofft hatte. „Im Historischen Gedächtnis der Europäer steht (...) immer noch ihre nationale Identität im Vordergrund; wie man den Wald manchmal vor Bäumen nicht sieht, nehmen die Europäer ihren Kontinent vor lauter Nationen nicht wahr.“9 Die Zustimmung zu Europa sinkt nachweislich in der Bevölkerung und Europa wird zunehmend als Ärgernis betrachtet.10 Einen weiteren blutigen Beweis für das erneute Aufflammen des Nationalismus, stellen die Konflikte im ehemaligen Gebiet Jugoslawiens dar.11

Das Fazit dieser Entwicklungen muss deshalb leider lauten: „Ebensowenig wie die Nationalstaaten sind die Nationen überwunden.“12

3.2 Arno Gruens Antwort auf die Frage: Warum wenden sich Menschen dem Nationalismus zu?

Arno Gruen geht davon aus, dass ein Zusammenhang besteht, zwischen der kindlichen Entwicklung, genauer der Entwicklung einer Nicht-Identität, und dem gesellschaftlich-politischem Verhalten dieser Menschen als Erwachsene.13 Kinder, die tiefgreifende Unterdrückung und Ablehnung erfahren haben, die diese Opferrolle aber aufgrund ihrer Überlebenssicherung verleugnen müssen, entfremden sich von ihrem Selbst; sie entwickeln eine Nicht-Identität.14 Das eigene Erleben der Opferrolle muss als etwas Fremdes verleugnet und verdrängt werden.15 Das kann dazu führen, dass die Verachtung anderer zur Basis einer Identität wird, der das Eigene fehlt. Diese Menschen brauchen dann das Fremde, um das eigene Fremde bestrafen zu können.16 Es wurde festgestellt, dass an die 16% der Menschen Feindbilder für die Aufrechterhaltung ihrer Persönlichkeitsstrukturen brauchen.17 Diese Menschen lassen sich auch besonders stark von paranoiden Ängsten anstecken, vor allem in Zeiten der Unsicherheit, weil sie sich von gesellschaftlichen Veränderungen bedroht fühlen.18 Jede Veränderung der Statusstrukturen wird dann von ihnen als Bedrohung empfunden.19 „Der Verlust des inneren durch Entfremdung führt dazu, dass Menschen ihren verlorenen Teil suchen, indem sie sich anderer bemächtigen, diese niedermachen und als Feinde zerstören.“20 Hitler gilt für Arno Gruen als extremes Beispiel für einen dieser Menschen.21 Hitler (und der Nationalismus prinzipiell) bot die Möglichkeit, den verhassten inneren Fremden nach außen zu verlagern, indem er den Menschen vermeintliche Feinde offerierte.22 So konnten sie den Hass ohne Schuldgefühle entäußern.23 In diesem Jahrhundert war nach Meinung Arno Gruens das Ausmaß von Entfremdung und Nicht-Identität besonders groß.24

Eine Selbstfindung durch die Identifikation mit einem Führer oder einer Nation kann nämlich dazu führen, dass Hass als Liebe legitimiert wird.25 „Aus Liebe zum Vaterland darf man morden.“26

Für diese Menschen bildet die Nation den Sinn ihres Lebens und gibt ihnen Sicherheit.


4 Thilo Sarrazin und sein Geschichtsbewusstsein als exemplarischer Vertreter des „Nationalgedankens“

Thilo Sarrazin fürchtet Unsicherheit, Veränderung und das Fremde. Wehler beschreibt, dass eine Entlastung der Individuen durch innere Vollendung der nationalen Einheit gelingen könnte.27 Genau dies fordert auch Sarrazin – die homogene Gruppe einer deutschen Gesellschaft. Im Sinne Arno Gruens ist davon auszugehen, dass Thilo Sarrazin zu den Menschen mit einer Nicht-Identität gehört, die sich vor gesellschaftlichen Veränderung bedroht fühlen. Es scheint als brauche auch er Feindbilder, um seine Persönlichkeitsstruktur aufrecht erhalten zu können.

Da Sarrazin viel Zustimmung in der deutschen Gesellschaft erhalten hat, ist seine Denke exemplarisch für einen breiten Teil unseres Landes. Deswegen gilt es zu überlegen, welches Geschichtsbewusstsein hinter den Aussagen Thilo Sarrazins steckt.

Thilo Sarrazin fordert: Menschen sollen „sich als Deutsche fühlen.28 Deutschland soll eingebettet sein „in ein Europa der Vaterländer29 und die deutsche Sprache soll erhalten bleiben.30

Thilo Sarrazin konstruiert damit klar abgrenzbare „Wir-“ und „Ihr-Identitäten“. Dabei sieht er sich der traditionellen Solidargemeinschaft der deutschen Nation zugehörig. Dass es sich dabei jedoch um eine gedanklich konstruierte „Wir-Identität“, im Sinne eines niemals erreichbaren einheitlichen Nationalvolks, handelt, scheint ihm nicht klar zu sein.

Herr Sarrazin führt außerdem aus, dass es Migration immer geben solle, „vorausgesetzt, sie (die Migraten) fügen sich der Kultur des Gastlandes und werden schließlich ein Teil von ihr.31

Diese Aussage setzt voraus, dass der Kultur oder Religion des Migranten eine geringere Wertigkeit beigemessen wird als der eigenen – eine ethnozentristische und überhebliche Vorstellung, da der eigenen Kultur eine höhere Wertigkeit zugeschrieben, die nicht angetastet werden darf.

Demografisch stellt die enorme Fruchtbarkeit der muslimischen Migranten eine Bedrohung für das kulturelle und zivilisatorische Gleichgewicht im alternden Europa dar.“ Unsere Kultur wird „intelektuell verkümmern“32 „Wer wird in 100 Jahren Wanderers Nachtlied noch kennen?“33

Sarrazin schürt ganz deutlich Überfremdungsängste. Das Fortbestehen der deutschen Nation wird in Frage gestellt. Bezüglich dieser Aussagen lässt sich die geschichtsdidaktische Kategorie des traditionellen Sinnbildungsmusters34 erkennen. Der Aspekt der Dauer wird vor den des Wandels gestellt. Die Ordnung der Lebensverhältnisse aus der Vergangenheit sollen auch in der Zukunft noch Gültigkeit haben.

Alle Juden teilen ein bestimmtes Gen, Basken haben bestimmte Gene, die sie von anderen unterscheiden.“35 Oft spricht Sarrazin von Kultur, meint aber Gene oder gar Rassen. Das wird bei Aussagen, wie eben genannter besonders deutlich. Das er sich damit auf historisch wackeliges Terrain begibt, scheint ihm nicht klar zu sein. Deshalb lässt sich vermuten, dass bei ihm die geschichtsdidaktische Kategorie der Reflexivität weniger ausgeprägt sein könnte.

Es kommt aufgrund von Aussagen wie letztgenannter (siehe auch folgendes Zitat Sarrazins) zum Verschwimmen des biologischen Rassismus und des kulturellen Rassismus. Sarrazin selbst würde sich jedoch mit dem Verweis auf sein Verständnis Deutschlands als einer Kulturnation jeglicher Rassismusvorwürfe entziehen.

Der Beitrag auch der besten Bildung wird durch die angeborene Begabung und den Einfluss einer bildungsfernen Herkunft begrenzt. Ich könnte dazu auch Darwin zitieren.“36

Sarrazin spricht (muslimischen) Einwanderern pauschal einen Aufstiegswillen ab und sieht sie aufgrund ihrer erblichen Veranlagung auch nicht in der Lage, ihre Bildungssituation und somit ihre soziale Stellung zu verbessern.

Abgesehen davon, fällt an vielen Stellen in Sarrazins Werk auf, dass der Mensch hier in erster Linie als Kostenfaktor erscheint. Auch ein Aspekt, der an die Zeit des Nationalsozialismus und das Dritte Reich erinnert, ohne von ihm reflektiert zu werden.

Meistens spricht Sarrazin in seinem Werk vom „Staat“, doch wenn man seine Argumente genauer untersucht, muss festgestellt werden, dass Sarrazin eigentlich von einer Nation spricht.37 Die Unterscheidung von Staat und Nation scheint wohl nicht vollzogen worden zu sein.

Letztendlich ist ein Mangel an empirische Triftigkeit in Sarrazins Aussagen zu erkennen. Zum einen erwiesen sich manche Feststellungen fachlich als falsch,38 zum Anderen erscheinen Statistiken, die die Demographie eines Landes beschreiben, zwar zunächst ein mal als einfach und verlässlich (die Demographie kommt als scheinbar unwiderlegbar daher). Eine Gefahr bei der Nutzung dieser Daten besteht allerdings darin, die demographische Entwicklungen für die nächsten 100 Jahre fortzuschreiben und daraus apokalyptische Szenarien zu entwickeln.39 Und genau diesen Fehler begeht auch Sarrazin indem, er Szenarien für Deutschland in 100 Jahren ermittelt.


5 Konsequenzen für die Gesellschaft & Unterricht


Gesellschaft:

In welche Richtung wird sich die Gesellschaft in Zukunft entwickelt? Können wir uns von dem Gebilde des Nationalstaats bald verabschieden? Der Soziologe Niklas Luhmann ging schon seit Anfang der 1980er Jahre nicht mehr von der Existenz von Nationalstaaten aus, die mit dem sozialen System der Gesellschaft identisch sein könnten.40 Bei Luhmann bildet die Kommunikation die Grundeinheit sozialer Systeme und da aufgrund der Entwicklung neuer Kommunikationstechnologien die Möglichkeit gegeben ist, weit über Ländergrenzen hinaus zu kommunizieren, könne das soziale System Gesellschaft deshalb nicht mehr durch nationalstaatliche Grenzen bestimmt werden.41

Gleichzeitig wird jedoch aus soziologischer Sicht erkannt, dass es im Zuge der Globalisierung auch zu Re-Nationalisierungstendenzen kommt. Als „problematisch“ für die nationale Wir-Identität wird dabei das Verschwimmen von Grenzen zwischen deutsch und nicht-deutsch genannt:42 Fußballspieler der deutschen Nationalmannschaft oder Parlamentsabgeordnete mit türkischem Namen und deutschem Pass, perfekt deutsch sprechende Jugendliche ohne deutsche Staatsangehörigkeit, oder deutschstämmige Aussiedler mit deutschem Pass, die nur gebrochen deutsch sprechen. Durch diese komplexen Elemente in der Gesellschaft werde es zunehmend schwieriger eine nationale Wir-Identität zu bestimmen.43 Dies führe zu einer Verunsicherung, die wiederum in ökonomisch schwierigen Zeiten besonders schwer auszuhalten sei.44 Die Bedrohung der kollektiven Identität führe dann zu einer stärkeren Betonung der nationalen Identität und es komme zu fremdenfeindlichen Einstellungen.45

In eine andere Richtung zeigte Ernest Renans Vorstellung aus dem Jahr 1882. Er ging davon aus, dass es möglich sei trotz Vielfalt geeint zusammenleben zu können. Das einzige Kriterium dazu sei ein übergeordneter gemeinsamer Wille.46

Dazu müsste erreicht werden, dass auch Migranten sich als Mitglied der in-group fühlen können. Das wäre dann der Fall, wenn Zugehörigkeit, Geborgenheit und das Gefühl, dass das Handeln des Einzelnen in und für diese Gruppe seiner Existenz Sinn verleiht.47

Unterricht:

      Im Geschichtsunterricht muss es vor allem darum gehen, durch die geschichtsdidaktischen Prinzipien Multiperspektivität, Gegenwartsbezug, Fremdverstehen und Alteritätserfahrung den zukünftigen Gestaltern unserer Gesellschaft das nötige Geschichtsbewusstsein mit auf den Weg zu geben.

Die Schüler/-innen sollten nicht in ethische Denkmuster versetzt werden, beispielsweise durch die Anfertigung eines Stammbaums. Hier könnte fälschlicherweise Biologie und Kultur vermischt werden. Der Gedanke der Abstammung, die Blutlinie darf nicht als Blutsverhängnis und als Definition von Zukunft daherkommen. Weiterhin sollte auch auf die besondere Darstellung „großer Helden“ einer Nation verzichtet werden. Stattdessen sollte die Vermittlung des Verständnisses für andere Denkweisen und Wertvorstellungen an erster Stelle stehen und damit das Fremdverstehen, als auch das Selbstverstehen, gefördert werden.48 Den Schülern sollte klar sein, was eine Nation von einem Staat unterscheidet. Inwieweit Feindbilder und Konflikte von Stereotypen überschüttet sind, oder wie die Herausforderungen multinationaler Gesellschaften gemeistert werden können, können durch die Prinzipien Perspektivwechsel und Gegenwartsbezüge im Unterricht thematisiert werden.49

Beachtet man auch Arno Gruens Feststellungen zur Entwicklung von gesellschaftspolitischen Verhaltensweisen, sollten für Kinder Bedingungen schaffen, in denen sie Liebe, Anerkennung und Mitgefühl erleben können. „Liebe ist der Nährboden für unsere Geschichte“, so Arno Gruen.50 Menschen, deren potentielles Selbst entfremdet wurde, sind auf äußere Regeln und feste Rahmenbedingungen angewiesen.51 Für den Umgang mit Menschen ohne innere Identität bedeutet das in erster Linie Grenzen setzen.





Literatur:




Fahrun, Joachim (2010): Heinz Buschkowsky benennt Sarrazins Fehler. Interview mit Heinz Buschkowsky. In: Berliner Morgenpost, 02.09.10; Abgerufen von




Gruen, Arno (2008): Der Fremde in uns. 6. Auflage. München: dtv



Korte, Hermann (2004): Soziologie. UTB basics. Konstanz: UVK Verlagsgesellschaft



Reinhard, Wolfgang (2007): Geschichte des modernen Staates. München: C. H. Beck



Renan, Ernest (1882): Was ist eine Nation? Rede am 11. März 1882 an der Sorbonne,

Hamburg 1996.



Rickens, Christian (2007): Die neuen Spießer. Von der fatalen Sehnsucht nach einer überholten Gesellschaft. 3. Auflage. Berlin: Ullstein



Schulze, Hagen (2004): Staat und Nation in der europäischen Geschichte. 2. Auflage. München: C. H. Beck



Sarrazin, Thilo (2010): Deutschland schafft sich ab. Wie wir unser Land

aufs Spiel setzen. München: Deutsche Verlagsanstalt.



Seibel, A./Schuhmacher, H./Fahrun, J.: „Mögen Sie keine Türken: Herr Sarrazin?“, Interview mit Thilo Sarrazin. In: Welt, 29. August 2010; Abgerufen von www.welt.de/politik/deutschland/article9255898/Moegen-Sie-keine-Tuerken-Herr-Sarrazin.html



Ulrich, Bernd/Topcu, Özlem: Sind Muslime dümmer?, Interview mit Thilo Sarrazin. In: Die Zeit, 26. August 2010, Nr. 35; Abgerufen von: http://www.zeit.de/2010/35/Sarrazin



Völkel, Bärbel (2007): Steinzeitmänner gingen auf die Jagd, die Frauen wuschen Wäsche. Kategorien und Prinzipien historischen Denkens in Schüleräußerungen erkennen. In: Geschichte lernen 116 (2007), S. 46-52



Wehler, Hans-Ulrich: Nationalismus. Geschichte, Formen, Folgen. 3. Auflage. München C. H. Beck

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