Die Lebenslüge der „Nation“ – ihre Geschichte und Ursachen, sowie ihre Formen in „modernen“ Gesellschaften. (Teil 1)
Was hat Thilo Sarrazins Sorge um Deutschland mit Geschichte zu tun?
Einleitung
In den folgenden Ausführungen soll es darum gehen, inwiefern die Konstrukte der Nation und des Nationalismus aus historischer Sicht an Bedeutung gewinnen konnten. Weiterhin wird der Frage nachgegangen, warum es sich bei den Gebilden aus Nation und Nationalismus umgedankliche Prinzipien handelt, sodass sie sich von dem Begriff des Staates abgrenzen lassen.
Zunächst werden die Nation und der Staat in ihrer historisch jungen Entwicklung betrachtet und auch Überlegungen zu transzendenten, quasi-religiösen Merkmalen des Nationalismus angestellt. Dann wird auch in Bezug auf Thesen des Psychoanalytikers Arno Gruen und mit Blick auf die Gegenwart erörtert, inwieweit heute noch an den Konstrukten Nation und Nationalismus festgehalten wird. Als gegenwärtiger exemplarischer Vertreter dazu soll Thilo
Sarrazin dienen, der in seinem Buch „Deutschland schafft sich ab“ Überfremdungsängste schürt und dessen Argumentationsweiselage eine gewisse Nähe zu nationalistischen Argumentationsmustern aufweist.
Zunächst werden die Nation und der Staat in ihrer historisch jungen Entwicklung betrachtet und auch Überlegungen zu transzendenten, quasi-religiösen Merkmalen des Nationalismus angestellt. Dann wird auch in Bezug auf Thesen des Psychoanalytikers Arno Gruen und mit Blick auf die Gegenwart erörtert, inwieweit heute noch an den Konstrukten Nation und Nationalismus festgehalten wird. Als gegenwärtiger exemplarischer Vertreter dazu soll Thilo
Sarrazin dienen, der in seinem Buch „Deutschland schafft sich ab“ Überfremdungsängste schürt und dessen Argumentationsweiselage eine gewisse Nähe zu nationalistischen Argumentationsmustern aufweist.
Schließlich
werden mögliche Konsequenzen für den Umgang mit Geschichte in der
Gesellschaft und der Vermittlung von Geschichte diskutiert.
2 Staat und Nation historisch betrachtet
2.1 Was ist eine Nation?
2.1.1 Zur Entstehung von Nationen
In einer Rede
umschreibt der französischen Religionswissenschaftler Ernest Renan
1882 das Gebilde der Nation. Diese Definition hat bis heute ihre
Gültigkeit bewahren können,1
weshalb die hier folgenden Ausführungen zur Nation hauptsächlich
den Aussagen Renans zu Grunde gelegt sind.
Zunächst
konstatiert Renan rein analytisch verschiedene Formen des
„Gruppenlebens“, die es zur seiner Zeit gibt, oder zuvor schon
einmal gegeben hat. Diese Vereinigungen von Menschengruppen könnten
vom „Band der Religion“, durch Konföderationen,
Verwandtschaftsbeziehungen oder durch die „Rasse“ und Sprache
zusammengehalten werden.2
Wichtig sei dabei, dass diese Formen nicht verwechselt werden
dürften.3
Zwei schwerwiegende Fehler könnten nämlich dabei begangen werden:
Erstens, indem man die Institutionen der kleinen unabhängigen Städte
auf große Nationen übertrage und zweitens, indem man den besonders
schwerwiegenden Fehler beginge, die „Rasse“ mit der „Nation“
zu verwechseln, denn dadurch spreche man sprachlichen Gruppen eine
Souveränität zu.4
Im
klassischen Altertum waren Republiken, Stadtkönigtümer und
Konföderationen lokaler Republiken bekannt. Nationen, als
Gemeinwesen, jedoch waren den Menschen zu dieser Zeit noch kein
Begriff.5
Das Wort „natio“ existierte ungeachtet dessen bereits in der
römischen Antike.6
Häufig wurde die Bezeichnung verwendet, um die „natio“ als
unzivilisierte Völkerschaft ohne gemeinsamen Institutionen von der
„civitas“ abzugrenzen.7
Der Begriff „natio“ wurde somit im Sinne der heutigen englischen
Bezeichnung „natives“ verwendet.8
Wie
kam es zu der Entwicklung der heutigen Nationen? Renan nennt in Bezug
auf diese Frage, die bis heute existierenden Länder Frankreich,
Deutschland, England, Italien und Spanien. In diesen Gebieten sei es
zu einer Verschmelzung der Bevölkerung gekommen, welche ihre Ursache
in folgenden Entwicklungen gehabt habe: Die Bevölkerung nahm die
Religion des Christentums an, sie des vergaßen teilweise eigene
Sprachen und es kam zu Heiraten zwischen verschiedenen Stämmen und
Völkern.9
Bei der Verschmelzung der Bevölkerung und somit der Erschaffung von
Nationen spiele laut Renan das Vergessen eine elementare Rolle.10
In diesem Sinne spricht er sogar von der Notwendigkeit eines
„historischen Irrtums“, um eine Nation erschaffen zu können.11
„Es
macht jedoch das Wesen einer Nation aus, dass alle Individuen etwas
miteinander gemein haben, auch, dass sie viele Dinge vergessen
haben.“12
Die
moderne Nation ist bei Renan ein historisches Ergebnis einer Anzahl
von Tatsachen, die wie folgt in der Geschichte auftreten können:
- Die Einheit der Nation wird (gewaltsam) durch eine Dynastie verwirklicht.1 Dabei handle es sich oft um eine Eroberung, mit der die Bevölkerung sich zunächst abgefunden hat und nach einiger Zeit schließlich vergessen hat.2 Die Dynastie kann sich aber auch auf Grund von Heiraten, Verträgen oder Kriegen herausbilden.
- Die Einheit der Nation wird aufgrund eines gemeinsamen Willens einzelner Provinzen verwirklicht.16 Renan nennt hier beispielhaft die Schweiz, Belgien oder die Vereinigten Staaten von Amerika.17
- Aus dem Wegfall des Feudalwesens heraus entsteht in Deutschland und Italien das Verlangen nach einer neuen ordnenden Struktur, wobei diese in der Verwirklichung einer Nation gegeben zu sein scheint.18 Die Rasse wird dabei (irrtümlich) als unterscheidendes Merkmal herangezogen.
Die
Begründung der Nation aufgrund des Merkmals der Rasse ist für Renan
nicht angemessen. Zwar hatte der Stamm (die Rasse) in der Antike
einen wichtigen Stellenwert. Doch dies ergab sich daraus, dass Stamm
und Stadt der Antike Erweiterungen der Familie gewesen waren; im
antiken Sparta und Athen waren fast alle Bürger miteinander
verwandt.1
Und auch heute ist sind Stammesgesellschaften dieser Art noch in
arabischen und vorderasiatischen Gebieten anzutreffen.2
Zur Zeit des Römischen Reiches, unter Karl des Großen und im
Mittelalter spielten ethnographische Vorstellungen kaum eine Rolle,
da es sich um aus verschiedensten „Rassen“ zusammengesetzte
Herrschaften handelte.3
Die Menschen kreuzten sich in vielfältiger Weise, welche heute nicht
mehr nachzuvollziehen ist. Deshalb kommt Renan zu dem Schluss, dass
es in Wahrheit „keine reine Rasse gibt“ und die Politik sich
damit auf eine „Chimäre“ beziehe.4
Die ersten Nationen Europas seien „Nationen von gemischtem Blut.“5
Renan stellt die Frage, ob denn Deutschland diesbezüglich eine
Ausnahme darstelle, widerlegt
diese
These aber umgehend.
„Ist
es ein rein germanisches Land? Welche Illusion! Der ganze Süden war
gallisch, der ganze Osten, von der Elbe an, ist slawisch.“24
Renan
fordert eine Differenzierung der Umschreibung von „Rasse“ zum
Einen im Kontext der Historiker und andererseits im Kontext der
Physio-Anthropologen. Die „Rasse“ müsse in historischen
Betrachtungen als etwas vergängliches betrachtet werden, was
entstehe und auch wieder verschwinde.25
Dementsprechend sei es auch nicht zu rechtfertigen, Personen anhand
ihrer äußeren Merkmalsausprägungen einer Nation (gewaltsam)
zuzuordnen.26
Die eben genannten Aspekte gelten auch für die Sprache. Aufgrund
einer gemeinsamen Sprache, ist noch lange nicht von einer Nation zu
sprechen (Als Beispiele seien hier Spanien und die Länder
Südamerikas genannt). Gleiches gilt auch umgekehrt: Trotz einer
Vielfalt von Sprachen in einer Gesellschaft, kann es zur
Herausbildung einer Nation kommen (Schweiz).27
Der politische Trugschluss bestehe letztendlich darin, dass man die
Sprache als Zeichen der Rasse ansehe. „Die Sprachen sind
historische Gebilde, die wenig über das Blut derer aussagen, die sie
sprechen.“28
Renan warnt die Politik und die Gesellschaft nicht zu viel Wert auf
die Sprache zu legen, weil dies zu einer begrenzten für national
gehaltenen Kultur führe.29
Auch
die Religion könne nicht als hinreichende Grundlage für einen
Nationalstaat gelten. Dies sei eine individuelle Angelegenheit,
welche gelöst von Grenzen der Völker zu betrachten sei.30
Weiterhin
reiche Renan zufolge auch die Gesamtheit gemeinsamer Interessen nicht
aus, um eine Nation zu bilden.31
Dasselbe gilt für die willkürlich gezogenen Grenzlinien zwischen
den Nationen.32
Renan
setzt sich für die Stimme der Bevölkerung ein. Die Einwohner
hätten, dass Recht gehört zu werden, beispielsweise in Bezug auf
die Annektion einer Provinz.33
Auf heute übertragen, könnte man daraus die These ableiten, dass
Migranten das Recht haben sollten, gehört zu werden, ob sie sich zu
einer Nation bekennen wollen oder nicht.
2.1.2 Die Nation als geistiges Prinzip
Letztendlich
kommt Renan zu dem Schluss, dass die Nation ein geistiges Prinzip
bildet, welches „aus tiefen Verwicklungen der Geschichte“
hervorgeht.34
Dieses Prinzip gründet sich auf zwei Säulen:
- Vergangenheitsbezug
Die Mitglieder der Nation berufen sich auf
gemeinsame Erinnerungen, das soziale Kapital, den Kult der Ahnen und
auf große Männer von Ruhm. Renan stellt dabei fest, dass
gemeinsames Leiden eine Gemeinschaft eher einen kann, als gemeinsame
Freude.35
- Gegenwarts- und Zukunftsbezug
Die Nation ist gekennzeichnet durch ein
gegenwärtige Einvernehmen, den Wille und den Wunsch, gemeinsamen
Erinnerungen hochzuhalten. Großes wurde vollbracht und soll auch in
Zukunft gemeinsam vollbracht werden.36
„Eine
Nation ist also eine große Solidargemeinschaft, getragen vom Gefühl
der Opfer, die man gebracht hat, und der Opfer, die man noch zu
bringen gewillt ist.“37
Auch
Reinhard legt dar, dass Nationen als Konstrukte zu verstehen sind.
Sie seien verbunden durch Sprache, Abstammung, Religion und
Territorium und begegnen anderen außerhalb der Nation mit
Abneigung.38
Diese Aspekte wenden den Blick auf die Vergangenheit, die erste Säule
bei Renan.
Weiterhin
führt Reinhard aus, die Nation werde durch den Willen
zusammengehalten, die „historische Solidargemeinschaft
fortzusetzen“.39
Dieser Blick in die Zukunft bildet bei Renan die zweite Säule des
geistigen Prinzips von Nation.
Kennzeichnend
für ein geistiges Konstrukt ist seine Vergänglichkeit. Nationen als
geistige Prinzipien erlöschen, wenn sie nicht mehr gedacht und
gewollt werden.40
„Besonders
spät kamen die Deutschen dazu, zu wissen, dass sie Deutsche
seien.“41
Dies könnte daran liegen, weil es einen deutschen Stamm gar nicht
gegeben hat. Eine fränkisch geprägte Aristokratie bildete den
politischen Zusammenhalt verschiedener Stämme und Siedlungsgebiete
östlich des Rheins.42
Seit römischen Zeiten wurde dieses Gebiet als „Germania“
bezeichnet.43
Das Heilige Römische Reich war bis zu seinem Ende nicht das
Vaterland seiner Bewohner. Anstattdessen definierte man sich als
Sachse, Baier, usw.44
Reinhard
bezeichnet die Annahme, dass Nationen natürliche und uranfängliche
Gebilde seien, die angeblich schon immer da waren, als Lebenslüge.45
Doch in der Geschichtswissenschaft wurden die Konzepte von Nation und
Nationalismus bis Mitte des 19. Jahrhunderts als selbstverständlich
angesehen, welche aufgrund dessen kaum kritischer Reflexion
ausgesetzt waren.46
Die „Nation galt als quasi-natürliche Einheit in der europäischen
Geschichte.“47
Die konventionelle Auffassung von Nation besagte, die Nation habe
seit archaischen Urzeiten bestanden.48
Man ging von einem ahistorisches Kollektiv aus,49
dabei sind Nation und Nationalismus relativ neuartige Phänomene der
Moderne.50
Die neuere Nationalismusforschung distanzierte sich schließlich seit
1980er Jahren deutlich von diesen Grundannahmen. Der Ansatz des
Konstruktivismus ermöglichte es, historische Phänomene als
„Konstrukte des menschlichen Geistes und seiner Katgorien“ zu
begreifen.51
Fest
steht, „Nationen sind nichts
ewiges.“52
„Der
Mensch ist weder Sklave seiner Rasse, seiner Sprache, seiner
Religion, noch des Laufs der Flüsse oder der Richtung der
Gebirgsketten.“53
Renan glaubte nicht daran, dass die Nationen ein zukunftsfähiges
Modell seien. Er geht im Jahr 1882 davon aus, dass
die „europäische Konföderation (...) sie (die Nationen)
wahrscheinlich ablösen“ wird.54
2.1.3 Von der Nation zum Nationalismus, oder umgekehrt?
In
diesem Kapitel so zunächst einmal geklärt werden, was unter
Nationalismus,
in Abgrenzung zum Begriff der Nation,
zu verstehen ist und warum der Nationalismus ausgerechnet in Europa
entstehen konnte. Anschließend soll die Frage beantwortet werden, ob
aus der Nation erst der Nationalismus entstanden ist, oder
umgekehrt; die Nation erst aufgrund des Nationalismus entstehen
konnte.
Wehler
definiert den Begriff Nationalismus
wie folgt: Nationalismus ist „das Ideensystem, die Doktrin, das
Weltbild, das der Schaffung, Mobilisierung und Integration eines
größeren Solidarverbandes (Nation genannt), vor allem aber der
Legitimation neuzeitlicher politischer Herrschaft dient“55
Hier wird bereits in der Definition deutlich, dass davon auszugehen
ist, dass der Nationalismus zur Entstehung der Nation beigetragen
hat. (Genaueres dazu: Siehe unten)
In
allen westlichen Ausprägungen des Nationalismus ist ein
selbstverständlicher Rückgriff auf jüdisch-christliche Traditionen
kennzeichnend. Diese Traditionen hatten schließlich in den
vergangenen 1000 Jahren den Denkhorizont der Bevölkerung geprägt.56
Diese Feststellung führt
auch zu der Frage, warum sich der Nationalismus gerade im Westen
etablieren konnte. Auf europäischem Gebiet waren die
Staatsbildungsprozess fortgeschritten und es es existierten bereits
hinlänglich konsolidierte Staaten.57
Außerdem lebten in Europa traditionsgefestigte Ethnien.58
Der Eintritt in das Industriezeitalter gestaltete sich als eine Sache
weniger Generationen und die Bevölkerung war einem sehr schneller
Wandel ausgesetzt.59
Dies führte zu Spannungen aufgrund der Modernisierung, da vertraute
Weltbilder verloren gegangen waren.60
Infolgedessen begannen die Menschen Halt zu suchen und fanden diesen
am neuen Weltbild des Nationalismus.61
Verstärkend wirkten dabei wachsende soziale Spannungen. Gebrochene
Verfassungsversprechen aus der Zeit des Vormärz trieben Staat und
Gesellschaft auseinander.62
Eine neue Legitimation von Herrschaft wurde erforderlich. Der Staat
benötigte eine neue Rechtfertigung. Diese fand sich in der
gemeinschaftsstiftenden Idee der Nation.63
Bei
der Konstruktion der Idee der Nation schreckte man auch vor
Geschichtsfälschung nicht
zurück. Schließlich beruhte das nationale
Geschichtsbild oft auf fiktiven Vorfahren.64
Die Herkunft der Nation wurde (und wird) durch einen linearen
Abstammungsmythos
aufgewertet.65
Der Ahnenmythos wirkte
in
Zeiten von Unsicherheit und des schnellen Wandels stabilisierend auf
die nationalen Gemeinschaft.66
Die Darstellung heroischer Taten zur „Vergoldung der Vergangenheit“
diente als Fundament des Stolzes.67
Eine gemeinsame nationale Sprache konnte im Bedarfsfall sogar
konstruiert werden.68
Aufgrund
des Zukunftsbezug des gedanklichen Konstrukts einer Nation ist es für
die Gemeinschaft der „Gleichen“ entscheidend, dass sie sich
selbst reproduzieren muss, um ihre eigene Existenz überdauern zu
können.
Der
homogenen Nation steht jedoch auch eine harte Exklusionspraxis von
Minderheiten gegenüber. Diese Tatsache wird oft als Januskopf des
Nationalismus bezeichnet.69
Zurückzuführen ist diese Exklusionspraxis auf die durchaus
menschliche Eigenschaft, dass Andersartigkeiten
uns irritieren. Deutlich wird dies am psychologisch-soziologischen
Modell von der Einteilung in-group und out-group. Aus der Forschung
ist bekannt, dass die Out-group, also die „Fremden“, im Vergleich
zu Bezugspersonen aus der in-group eher als minderwertig angesehen
werden.70
Im Nationalismus wird die in-group vom geistigem Prinzip des
„Wir-Gefühls“ zusammengehalten. Die Sinnhaftigkeit dieser
Wir-Gruppe wird dabei nicht nur durch Normen und Verhaltensweisen,
sondern hauptsächlich durch die
Identifikation mit Symbolen (Fahnen)
hergestellt.71
Konstituierendes Element des Nationalismus ist also ein
Symbolsystem,
das
die Zusammengehörigkeit der Gruppe bewusst macht, einzelnen
Gruppenmitgliedern einen besonderen Wert zuschreibt und sie auf diese
Weise integriert und gegen ihre Umwelt abgrenzt.72
Im
Gegensatz zur Gruppe einer Familie oder Sportmannschaft ist jedoch
die Nationsgemeinschaft immer nur eine imaginierte Gemeinschaft. Die
meisten Mitglieder einer Nation werden niemals die meisten anderen
kennenlernen. Doch im Kopf jedes einzelnen existiert eine Vorstellung
von „seiner Nation“.73
Nicht zuletzt deshalb wird Nationalismus auch als „Weltbild“
(Max Weber) oder als „gedankliche Vision“ (Pierre Bourdieu), die
Welt zu begreifen und einzuordnen, bezeichnet.
Dies
macht deutlich, dass die Nation der Konstruktionserfolg des
Nationalismus ist.74
Daraus wiederum ergibt sich: Der Nationalismus schafft seine Nation
und nicht umgekehrt.75
In
der Geschichte seines Bestehens ging der Nationalismus oft Fusionen
mit Konfessionen oder historischen Regionen ein, da er aus diesen
Allianzen seine Dynamik und Beständigkeit beziehen konnte.76
Inwiefern der Nationalismus dabei selbst religiöse Züge annehmen
kann, wird im folgenden Kapitel erörtert.
2.3 Die Nation als Religion
Zunächst
einmal ist festzustellen, dass beide Konzepte, das der Nation und das
der Religion, der Idee entgegenstehen, dass es zwischen allen
Menschen Gemeinsamkeiten gibt. Bereits
die Selbstdefinition von Nation umschließt die Abgrenzung zu
Fremden.77
Weiterhin
ist die Nation nicht unmittelbar sichtbare Realität. Sie muss
geglaubt werden wie eine Religion.78
„Auf hochemotionale, quasi-religiöse Weise identifiziert sich der
Bürger mit der Nation“79
Da die Kirche im Zuge der Modernisierung und Säkularisierung
zurückgedrängt80
und nicht zuletzt durch die Aufklärung in Frage gestellt worden
war,81
empfing der Staat seine Rechtfertigung nicht mehr von Gott, sondern
von der Nation.82Indem
„die Nation die Stelle einer Kirche einnahm“, erlangte der
Nationalismus die Fähigkeit einer emotionalen Mobilisierung, die nur
mit der religiösen vergleichbar ist.83
Wenn
die Nation den höchsten Wert und den letzten Sinn darstellt, wie
dies im Nationalismus üblich ist,84
wird der Nationalismus „auf diese Weise zur Religion.“85
Darüberhinaus
gilt die Nation als Gemeinschaft der Lebenden, der Toten und der
Ungeborenen.86Die
Kombination von Vergangenheits-, Gegenwarts- und Zukunftsbezug machen
transzendente Elemente dieses geistigen Prinzips aus.
Außerdem
treten mehrere alttestamentarische Elemente immer wieder in der Welt
des Nationalismus auf.87
Es wird vom „auserwählten Volk“ oder „gelobten heiligen Land“
gesprochen.88
Jemand, der das heilsgeschichtlich priviligierte Volk infrage stellt,
wird als Bedrohung eingestuft und zum Todfeind erklärt. Auch das
Vertrauen auf einen zukünftigen Messias oder Heiland, der die Nation
führe ist ein Motiv des Nationalismus.89
Die Idee der Brüderlichkeit findet sich ebenfalls im Christentum und
in der Idee der Nation wieder. Die Mitglieder der Nation sollen
brüderlich vereint sein.90
Die Herkunft der Nation wird, wie bereits erwähnt, durch einen
linearen Abstammungsmythos aufgewertet. Damit wird auf das Beispiel
der biblischen Legende von Moses und seinem Stamm verwiesen.91
Auch
heilige Texte, wie beispielsweise die amerikanische
Verfassungsurkunde, können innerhalb einer Nation entstehen.92
Aufgrund
all dieser Annahmen stellt auch der Kultursoziologe Norbert Elias
fest: Der Nationalismus sei „eines der mächtigsten, wenn nicht das
mächtigste soziale Glaubenssystem des 19. und 20. Jahrhunderts“.93
2.2 Was ist ein Staat?
In
Abgrenzung zum Begriff der Nation, soll hier nun erörtert
werden, was unter der Bezeichnung Staat zu verstehen ist. Dazu
kann bereits zu Anfang gesagt werden, dass der Staat in Bezug zur
Nation quasi als Verwaltungseinheit der Letzteren fungiert.
Der
Staat ist zunächst als Typ eines Gemeinwesens zu klassifizieren.
Daneben existieren nach Reinhard noch zwei weitere Haupttypen, und
zwar Reiche und Republiken.94
Dieser Einteilung folgt auch Machiavelli, wenn er von
Fürstenherrschaften und Republiken spricht.95
In Reichen kam es in der Regel nicht zu einer Homogenisierung von
Territorien oder Bevölkerung und ethnische, sowie sprachliche
Unterschiede, spielten eine untergeordnete Rolle. Weiterhin handelte
es sich bei Reichen um Gebilde aus Ländern mit unterschiedlichem
Status - nicht so im Staat.96
Der
Staat kann aufgrund seiner Entstehungsgeschichte in erster Linie als
Machtstaat klassifiziert werden. Dem Beginn des organisierten
Gemeinwesens, aus welchem sich der moderne Staat entwickeln habe,
liege Reinhard zufolge das Machtstreben zu Grunde. Mündet das
Machtstreben in Erfolg und Akzeptanz, werde Macht zur Herrschaft, die
durch die Bildung politischer Institutionen gesichert und verteidigt
wird.97
Die wichtigste Voraussetzung für die Entstehung des modernen Staates
sei der kontinuierliche effiziente Machtwille, wie er in Dynastien
zum Ausdruck kommen konnte.98
Eine weitere wichtige Rolle spielten die Machteliten, die die
Durchsetzung der Herrschaft erst ermöglichten.99
Die Absicht einen modernen Staat zu begründen habe dabei jedoch nie
bestanden. Die Politik des Machtgewinns zog diese Entwicklung
folglich aber nach sich.100
Reinhard erscheint die Begründung des modernen Staates auf dieser
Grundlage wirklichkeitsnäher, als „die Versuche, den Staat auf
einen fiktiven Gesellschaftsvertrag, auf den Wertekonsens einer
Gesellschaft oder auf Angebot und Nachfrage eines freien Marktes
zurückzuführen“.101
Aufgrund der Konkurrenz unter (neu gegründeten) Staaten, habe es zu
Kriegen geführt, die aufgrund steigender Kriegskosten erforderten,
dass alle Ressourcen des Staates ausgeschöpft werden mussten, wozu
zunehmende Kontrollen nötig wurden, die im Endeffekt in einer
Zentralgewalt mündeten.102
Aus diesem Grund konstatiert Reinhard: „Als Machtstaat ist der
moderne Staat seinem Ursprung nach Kriegsstaat.“103
Der
moderne Staat gilt als Satz von Institutionen, der sich selbst
legitimiert und so zum Selbstzweck geworden ist.104
Der Staat kann durch folgende Eigenschaften von anderen vormodernen
Gemeinwesen unterschieden werden:
- Er umfasst ein einheitliches Staatsgebiet105
- In dem Staat lebt ein einheitliches Staatsvolk. Damit ist zunächst lediglich ein sesshafter Personenverband, der denselben Status genießt, gemeint und nicht die ethnisch-kulturelle Einheit.106
- Die einheitliche Staatsgewalt ist in Besitz der Souveränität (einziger Ausgangspunkt der Staatsgewalt) und verfügt damit einhergehend über:
- Das Gewaltmonopol im Inneren des Staates107 und
- das Gewaltmonopol nach Außen108
- Der moderne Staat ist ein Rechts- und Verfassungsstaat, was bedeutet, das ihm das Rechtsmonopol zusteht.
- Der modernen Staat ist ein Nationalstaat.109 Das ist er dann, wenn die Staatsgewalt als „Vollstrecker eines einheitlichen nationalen Willens“ auftritt.110
- Der moderne Staat ist eine Demokratie. Das heißt, dass eine parlamentarische Komponente vorhanden vorhanden sein muss und der Staat sich sich zur Volkssouveränität bekennt.11
Im Folgenden sollen nun einige Begriffskonstellationen erörtert werden, die das Element des Staates in sich tragen.
Zum
einen gibt es zwei Ausprägungen der Nation. Man spricht von der
Staats-
und Kulturnation.
Die Bezeichnung Staatsnation galt zunächst als Leitbegriff der
politischen Führungsschichten.115
Durch den Wegfall der Ständegesellschaft entstand die „Volksnation“.
Die Vereinigung der Begriffe „Volk“ und „Nation“ geht auf die
Entwicklung zurück, dass nicht mehr nur die politisch Handlenden des
ersten und zweiten Standes, die Nation bildeten, sondern der dritte
Stand die Nation repräsentierte.116
Wenn
man von der Nation als Kultur- und Sprachgemeinschaft spricht, wird
der Begriff Kulturnation verwendet. Die Arroganz der deutschen
Bildungsidee á la „am deutschen Wesen soll die Welt genesen“
stellte jedoch (noch) nicht das Programm eines imperialen
Nationalismus dar,117
sondern das kulturelles Band der Gebildeten.118
Von
einem Nationalstaat
ist dann, die Rede, wenn
das Volk eins mit der Nation ist und sich als kulturelle und
politische Gemeinschaft sieht.119
Das Fundament des Nationalstaats
ist die Identifikation seiner Bürger mit ihm, wozu der
Nationalismus sein Übriges leistet.120
Der
geschlossene Nationalstaat
als politisches Standartmodell ist nichts anderes als eine Fiktion.121
Bei einer Untersuchung von 132 Staaten im Jahr 1971, stellte sich
heraus, dass in nur knapp 10% aller Staaten ein bis zu 90%
einheitliches Staatsvolk lebt. In knapp 35% aller Staaten machen
nationale Minderheiten über 50% der Bevölkerung aus.122
Bis heute dürfte sich diese Zahl aufgrund anhaltender
Migrationsströmen sogar noch verstärkt haben.
Eine
Besonderheit, was die Verwendung des Begriffs „Staat“ betrifft,
konstatiert Reinhard in Deutschland: Bis heute bestünden „erhebliche
Restbestände einer nahezu religiösen Andacht zum Staate.“123
Hauptsächlich in Deutschland werde der Terminus des Staates
bevorzugt verwendet, wohingegen man in andern Ländern eher von der
„Regierung“, der „Nation“, oder „Republik“ spreche.124
Zusammenfassend
lässt sich an dieser Stelle sagen, dass der Staat zunächst einmal
nur auf der Notwendigkeit der Organisation eines Gemeinwesens fußt.
Durch den Nationalismus wurde dem Staat ein Fundament gegeben, das
ihn als einheitliches Gebilde darstellen soll und schließlich eine
Nation bildet. Die Unterscheidung zwischen dem Staat als (neutraler)
Organisator einer Gemeinschaft und dem Konstrukt der Nation zu
treffen ist also aus historischer Sicht unumgänglich.