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Dienstag, 18. Juni 2013

Die Lebenslüge der „Nation“ – ihre Geschichte und Ursachen, sowie ihre Formen in „modernen“ Gesellschaften. (Teil 1)

Was hat Thilo Sarrazins Sorge um Deutschland mit Geschichte zu tun?


Einleitung

In den folgenden Ausführungen soll es darum gehen, inwiefern die Konstrukte der Nation und des Nationalismus aus historischer Sicht an Bedeutung gewinnen konnten. Weiterhin wird der Frage nachgegangen, warum es sich bei den Gebilden aus Nation und Nationalismus umgedankliche Prinzipien handelt, sodass sie sich von dem Begriff des Staates abgrenzen lassen.
Zunächst werden die Nation und der Staat in ihrer historisch jungen Entwicklung betrachtet und auch Überlegungen zu transzendenten, quasi-religiösen Merkmalen des Nationalismus angestellt. Dann wird auch in Bezug auf Thesen des Psychoanalytikers Arno Gruen und mit Blick auf die Gegenwart erörtert, inwieweit heute noch an den Konstrukten Nation und Nationalismus festgehalten wird. Als gegenwärtiger exemplarischer Vertreter dazu soll Thilo
Sarrazin dienen, der in seinem Buch „Deutschland schafft sich ab“ Überfremdungsängste schürt und dessen Argumentationsweiselage
eine gewisse Nähe zu nationalistischen Argumentationsmustern aufweist.

Schließlich werden mögliche Konsequenzen für den Umgang mit Geschichte in der Gesellschaft und der Vermittlung von Geschichte diskutiert.

2 Staat und Nation historisch betrachtet


2.1 Was ist eine Nation?


2.1.1 Zur Entstehung von Nationen


In einer Rede umschreibt der französischen Religionswissenschaftler Ernest Renan 1882 das Gebilde der Nation. Diese Definition hat bis heute ihre Gültigkeit bewahren können,1 weshalb die hier folgenden Ausführungen zur Nation hauptsächlich den Aussagen Renans zu Grunde gelegt sind.

Zunächst konstatiert Renan rein analytisch verschiedene Formen des „Gruppenlebens“, die es zur seiner Zeit gibt, oder zuvor schon einmal gegeben hat. Diese Vereinigungen von Menschengruppen könnten vom „Band der Religion“, durch Konföderationen, Verwandtschaftsbeziehungen oder durch die „Rasse“ und Sprache zusammengehalten werden.2 Wichtig sei dabei, dass diese Formen nicht verwechselt werden dürften.3 Zwei schwerwiegende Fehler könnten nämlich dabei begangen werden: Erstens, indem man die Institutionen der kleinen unabhängigen Städte auf große Nationen übertrage und zweitens, indem man den besonders schwerwiegenden Fehler beginge, die „Rasse“ mit der „Nation“ zu verwechseln, denn dadurch spreche man sprachlichen Gruppen eine Souveränität zu.4

Im klassischen Altertum waren Republiken, Stadtkönigtümer und Konföderationen lokaler Republiken bekannt. Nationen, als Gemeinwesen, jedoch waren den Menschen zu dieser Zeit noch kein Begriff.5 Das Wort „natio“ existierte ungeachtet dessen bereits in der römischen Antike.6 Häufig wurde die Bezeichnung verwendet, um die „natio“ als unzivilisierte Völkerschaft ohne gemeinsamen Institutionen von der „civitas“ abzugrenzen.7 Der Begriff „natio“ wurde somit im Sinne der heutigen englischen Bezeichnung „natives“ verwendet.8

Wie kam es zu der Entwicklung der heutigen Nationen? Renan nennt in Bezug auf diese Frage, die bis heute existierenden Länder Frankreich, Deutschland, England, Italien und Spanien. In diesen Gebieten sei es zu einer Verschmelzung der Bevölkerung gekommen, welche ihre Ursache in folgenden Entwicklungen gehabt habe: Die Bevölkerung nahm die Religion des Christentums an, sie des vergaßen teilweise eigene Sprachen und es kam zu Heiraten zwischen verschiedenen Stämmen und Völkern.9 Bei der Verschmelzung der Bevölkerung und somit der Erschaffung von Nationen spiele laut Renan das Vergessen eine elementare Rolle.10 In diesem Sinne spricht er sogar von der Notwendigkeit eines „historischen Irrtums“, um eine Nation erschaffen zu können.11

Es macht jedoch das Wesen einer Nation aus, dass alle Individuen etwas miteinander gemein haben, auch, dass sie viele Dinge vergessen haben.“12

Die moderne Nation ist bei Renan ein historisches Ergebnis einer Anzahl von Tatsachen, die wie folgt in der Geschichte auftreten können:
  1. Die Einheit der Nation wird (gewaltsam) durch eine Dynastie verwirklicht.1 Dabei handle es sich oft um eine Eroberung, mit der die Bevölkerung sich zunächst abgefunden hat und nach einiger Zeit schließlich vergessen hat.2 Die Dynastie kann sich aber auch auf Grund von Heiraten, Verträgen oder Kriegen herausbilden.
  2. Die Einheit der Nation wird aufgrund eines gemeinsamen Willens einzelner Provinzen verwirklicht.16 Renan nennt hier beispielhaft die Schweiz, Belgien oder die Vereinigten Staaten von Amerika.17 
  3. Aus dem Wegfall des Feudalwesens heraus entsteht in Deutschland und Italien das Verlangen nach einer neuen ordnenden Struktur, wobei diese in der Verwirklichung einer Nation gegeben zu sein scheint.18 Die Rasse wird dabei (irrtümlich) als unterscheidendes Merkmal herangezogen.



Die Begründung der Nation aufgrund des Merkmals der Rasse ist für Renan nicht angemessen. Zwar hatte der Stamm (die Rasse) in der Antike einen wichtigen Stellenwert. Doch dies ergab sich daraus, dass Stamm und Stadt der Antike Erweiterungen der Familie gewesen waren; im antiken Sparta und Athen waren fast alle Bürger miteinander verwandt.1 Und auch heute ist sind Stammesgesellschaften dieser Art noch in arabischen und vorderasiatischen Gebieten anzutreffen.2 Zur Zeit des Römischen Reiches, unter Karl des Großen und im Mittelalter spielten ethnographische Vorstellungen kaum eine Rolle, da es sich um aus verschiedensten „Rassen“ zusammengesetzte Herrschaften handelte.3 Die Menschen kreuzten sich in vielfältiger Weise, welche heute nicht mehr nachzuvollziehen ist. Deshalb kommt Renan zu dem Schluss, dass es in Wahrheit „keine reine Rasse gibt“ und die Politik sich damit auf eine „Chimäre“ beziehe.4 Die ersten Nationen Europas seien „Nationen von gemischtem Blut.“5 Renan stellt die Frage, ob denn Deutschland diesbezüglich eine Ausnahme darstelle, widerlegt diese These aber umgehend.
Ist es ein rein germanisches Land? Welche Illusion! Der ganze Süden war gallisch, der ganze Osten, von der Elbe an, ist slawisch.“24

Renan fordert eine Differenzierung der Umschreibung von „Rasse“ zum Einen im Kontext der Historiker und andererseits im Kontext der Physio-Anthropologen. Die „Rasse“ müsse in historischen Betrachtungen als etwas vergängliches betrachtet werden, was entstehe und auch wieder verschwinde.25 Dementsprechend sei es auch nicht zu rechtfertigen, Personen anhand ihrer äußeren Merkmalsausprägungen einer Nation (gewaltsam) zuzuordnen.26 Die eben genannten Aspekte gelten auch für die Sprache. Aufgrund einer gemeinsamen Sprache, ist noch lange nicht von einer Nation zu sprechen (Als Beispiele seien hier Spanien und die Länder Südamerikas genannt). Gleiches gilt auch umgekehrt: Trotz einer Vielfalt von Sprachen in einer Gesellschaft, kann es zur Herausbildung einer Nation kommen (Schweiz).27 Der politische Trugschluss bestehe letztendlich darin, dass man die Sprache als Zeichen der Rasse ansehe. „Die Sprachen sind historische Gebilde, die wenig über das Blut derer aussagen, die sie sprechen.“28 Renan warnt die Politik und die Gesellschaft nicht zu viel Wert auf die Sprache zu legen, weil dies zu einer begrenzten für national gehaltenen Kultur führe.29

Auch die Religion könne nicht als hinreichende Grundlage für einen Nationalstaat gelten. Dies sei eine individuelle Angelegenheit, welche gelöst von Grenzen der Völker zu betrachten sei.30

Weiterhin reiche Renan zufolge auch die Gesamtheit gemeinsamer Interessen nicht aus, um eine Nation zu bilden.31 Dasselbe gilt für die willkürlich gezogenen Grenzlinien zwischen den Nationen.32

Renan setzt sich für die Stimme der Bevölkerung ein. Die Einwohner hätten, dass Recht gehört zu werden, beispielsweise in Bezug auf die Annektion einer Provinz.33 Auf heute übertragen, könnte man daraus die These ableiten, dass Migranten das Recht haben sollten, gehört zu werden, ob sie sich zu einer Nation bekennen wollen oder nicht.

2.1.2 Die Nation als geistiges Prinzip


Letztendlich kommt Renan zu dem Schluss, dass die Nation ein geistiges Prinzip bildet, welches „aus tiefen Verwicklungen der Geschichte“ hervorgeht.34 Dieses Prinzip gründet sich auf zwei Säulen:

  1. Vergangenheitsbezug

Die Mitglieder der Nation berufen sich auf gemeinsame Erinnerungen, das soziale Kapital, den Kult der Ahnen und auf große Männer von Ruhm. Renan stellt dabei fest, dass gemeinsames Leiden eine Gemeinschaft eher einen kann, als gemeinsame Freude.35

  1. Gegenwarts- und Zukunftsbezug

Die Nation ist gekennzeichnet durch ein gegenwärtige Einvernehmen, den Wille und den Wunsch, gemeinsamen Erinnerungen hochzuhalten. Großes wurde vollbracht und soll auch in Zukunft gemeinsam vollbracht werden.36

„Eine Nation ist also eine große Solidargemeinschaft, getragen vom Gefühl der Opfer, die man gebracht hat, und der Opfer, die man noch zu bringen gewillt ist.“37

Auch Reinhard legt dar, dass Nationen als Konstrukte zu verstehen sind. Sie seien verbunden durch Sprache, Abstammung, Religion und Territorium und begegnen anderen außerhalb der Nation mit Abneigung.38 Diese Aspekte wenden den Blick auf die Vergangenheit, die erste Säule bei Renan.

Weiterhin führt Reinhard aus, die Nation werde durch den Willen zusammengehalten, die „historische Solidargemeinschaft fortzusetzen“.39 Dieser Blick in die Zukunft bildet bei Renan die zweite Säule des geistigen Prinzips von Nation.

Kennzeichnend für ein geistiges Konstrukt ist seine Vergänglichkeit. Nationen als geistige Prinzipien erlöschen, wenn sie nicht mehr gedacht und gewollt werden.40

„Besonders spät kamen die Deutschen dazu, zu wissen, dass sie Deutsche seien.“41 Dies könnte daran liegen, weil es einen deutschen Stamm gar nicht gegeben hat. Eine fränkisch geprägte Aristokratie bildete den politischen Zusammenhalt verschiedener Stämme und Siedlungsgebiete östlich des Rheins.42 Seit römischen Zeiten wurde dieses Gebiet als „Germania“ bezeichnet.43 Das Heilige Römische Reich war bis zu seinem Ende nicht das Vaterland seiner Bewohner. Anstattdessen definierte man sich als Sachse, Baier, usw.44

Reinhard bezeichnet die Annahme, dass Nationen natürliche und uranfängliche Gebilde seien, die angeblich schon immer da waren, als Lebenslüge.45 Doch in der Geschichtswissenschaft wurden die Konzepte von Nation und Nationalismus bis Mitte des 19. Jahrhunderts als selbstverständlich angesehen, welche aufgrund dessen kaum kritischer Reflexion ausgesetzt waren.46 Die „Nation galt als quasi-natürliche Einheit in der europäischen Geschichte.“47 Die konventionelle Auffassung von Nation besagte, die Nation habe seit archaischen Urzeiten bestanden.48 Man ging von einem ahistorisches Kollektiv aus,49 dabei sind Nation und Nationalismus relativ neuartige Phänomene der Moderne.50 Die neuere Nationalismusforschung distanzierte sich schließlich seit 1980er Jahren deutlich von diesen Grundannahmen. Der Ansatz des Konstruktivismus ermöglichte es, historische Phänomene als „Konstrukte des menschlichen Geistes und seiner Katgorien“ zu begreifen.51

Fest steht, „Nationen sind nichts ewiges.“52 „Der Mensch ist weder Sklave seiner Rasse, seiner Sprache, seiner Religion, noch des Laufs der Flüsse oder der Richtung der Gebirgsketten.“53 Renan glaubte nicht daran, dass die Nationen ein zukunftsfähiges Modell seien. Er geht im Jahr 1882 davon aus, dass die „europäische Konföderation (...) sie (die Nationen) wahrscheinlich ablösen“ wird.54

2.1.3 Von der Nation zum Nationalismus, oder umgekehrt?


In diesem Kapitel so zunächst einmal geklärt werden, was unter Nationalismus, in Abgrenzung zum Begriff der Nation, zu verstehen ist und warum der Nationalismus ausgerechnet in Europa entstehen konnte. Anschließend soll die Frage beantwortet werden, ob aus der Nation erst der Nationalismus entstanden ist, oder umgekehrt; die Nation erst aufgrund des Nationalismus entstehen konnte.

Wehler definiert den Begriff Nationalismus wie folgt: Nationalismus ist „das Ideensystem, die Doktrin, das Weltbild, das der Schaffung, Mobilisierung und Integration eines größeren Solidarverbandes (Nation genannt), vor allem aber der Legitimation neuzeitlicher politischer Herrschaft dient“55 Hier wird bereits in der Definition deutlich, dass davon auszugehen ist, dass der Nationalismus zur Entstehung der Nation beigetragen hat. (Genaueres dazu: Siehe unten)

In allen westlichen Ausprägungen des Nationalismus ist ein selbstverständlicher Rückgriff auf jüdisch-christliche Traditionen kennzeichnend. Diese Traditionen hatten schließlich in den vergangenen 1000 Jahren den Denkhorizont der Bevölkerung geprägt.56 Diese Feststellung führt auch zu der Frage, warum sich der Nationalismus gerade im Westen etablieren konnte. Auf europäischem Gebiet waren die Staatsbildungsprozess fortgeschritten und es es existierten bereits hinlänglich konsolidierte Staaten.57 Außerdem lebten in Europa traditionsgefestigte Ethnien.58 Der Eintritt in das Industriezeitalter gestaltete sich als eine Sache weniger Generationen und die Bevölkerung war einem sehr schneller Wandel ausgesetzt.59 Dies führte zu Spannungen aufgrund der Modernisierung, da vertraute Weltbilder verloren gegangen waren.60 Infolgedessen begannen die Menschen Halt zu suchen und fanden diesen am neuen Weltbild des Nationalismus.61 Verstärkend wirkten dabei wachsende soziale Spannungen. Gebrochene Verfassungsversprechen aus der Zeit des Vormärz trieben Staat und Gesellschaft auseinander.62 Eine neue Legitimation von Herrschaft wurde erforderlich. Der Staat benötigte eine neue Rechtfertigung. Diese fand sich in der gemeinschaftsstiftenden Idee der Nation.63

Bei der Konstruktion der Idee der Nation schreckte man auch vor Geschichtsfälschung nicht zurück. Schließlich beruhte das nationale Geschichtsbild oft auf fiktiven Vorfahren.64 Die Herkunft der Nation wurde (und wird) durch einen linearen Abstammungsmythos aufgewertet.65 Der Ahnenmythos wirkte in Zeiten von Unsicherheit und des schnellen Wandels stabilisierend auf die nationalen Gemeinschaft.66 Die Darstellung heroischer Taten zur „Vergoldung der Vergangenheit“ diente als Fundament des Stolzes.67 Eine gemeinsame nationale Sprache konnte im Bedarfsfall sogar konstruiert werden.68

Aufgrund des Zukunftsbezug des gedanklichen Konstrukts einer Nation ist es für die Gemeinschaft der „Gleichen“ entscheidend, dass sie sich selbst reproduzieren muss, um ihre eigene Existenz überdauern zu können.

Der homogenen Nation steht jedoch auch eine harte Exklusionspraxis von Minderheiten gegenüber. Diese Tatsache wird oft als Januskopf des Nationalismus bezeichnet.69 Zurückzuführen ist diese Exklusionspraxis auf die durchaus menschliche Eigenschaft, dass Andersartigkeiten uns irritieren. Deutlich wird dies am psychologisch-soziologischen Modell von der Einteilung in-group und out-group. Aus der Forschung ist bekannt, dass die Out-group, also die „Fremden“, im Vergleich zu Bezugspersonen aus der in-group eher als minderwertig angesehen werden.70 Im Nationalismus wird die in-group vom geistigem Prinzip des „Wir-Gefühls“ zusammengehalten. Die Sinnhaftigkeit dieser Wir-Gruppe wird dabei nicht nur durch Normen und Verhaltensweisen, sondern hauptsächlich durch die Identifikation mit Symbolen (Fahnen) hergestellt.71 Konstituierendes Element des Nationalismus ist also ein Symbolsystem, das die Zusammengehörigkeit der Gruppe bewusst macht, einzelnen Gruppenmitgliedern einen besonderen Wert zuschreibt und sie auf diese Weise integriert und gegen ihre Umwelt abgrenzt.72

Im Gegensatz zur Gruppe einer Familie oder Sportmannschaft ist jedoch die Nationsgemeinschaft immer nur eine imaginierte Gemeinschaft. Die meisten Mitglieder einer Nation werden niemals die meisten anderen kennenlernen. Doch im Kopf jedes einzelnen existiert eine Vorstellung von „seiner Nation“.73 Nicht zuletzt deshalb wird Nationalismus auch als „Weltbild“ (Max Weber) oder als „gedankliche Vision“ (Pierre Bourdieu), die Welt zu begreifen und einzuordnen, bezeichnet.

Dies macht deutlich, dass die Nation der Konstruktionserfolg des Nationalismus ist.74 Daraus wiederum ergibt sich: Der Nationalismus schafft seine Nation und nicht umgekehrt.75



In der Geschichte seines Bestehens ging der Nationalismus oft Fusionen mit Konfessionen oder historischen Regionen ein, da er aus diesen Allianzen seine Dynamik und Beständigkeit beziehen konnte.76 Inwiefern der Nationalismus dabei selbst religiöse Züge annehmen kann, wird im folgenden Kapitel erörtert.

2.3 Die Nation als Religion


Zunächst einmal ist festzustellen, dass beide Konzepte, das der Nation und das der Religion, der Idee entgegenstehen, dass es zwischen allen Menschen Gemeinsamkeiten gibt. Bereits die Selbstdefinition von Nation umschließt die Abgrenzung zu Fremden.77

Weiterhin ist die Nation nicht unmittelbar sichtbare Realität. Sie muss geglaubt werden wie eine Religion.78 „Auf hochemotionale, quasi-religiöse Weise identifiziert sich der Bürger mit der Nation“79 Da die Kirche im Zuge der Modernisierung und Säkularisierung zurückgedrängt80 und nicht zuletzt durch die Aufklärung in Frage gestellt worden war,81 empfing der Staat seine Rechtfertigung nicht mehr von Gott, sondern von der Nation.82Indem „die Nation die Stelle einer Kirche einnahm“, erlangte der Nationalismus die Fähigkeit einer emotionalen Mobilisierung, die nur mit der religiösen vergleichbar ist.83

Wenn die Nation den höchsten Wert und den letzten Sinn darstellt, wie dies im Nationalismus üblich ist,84 wird der Nationalismus „auf diese Weise zur Religion.“85

Darüberhinaus gilt die Nation als Gemeinschaft der Lebenden, der Toten und der Ungeborenen.86Die Kombination von Vergangenheits-, Gegenwarts- und Zukunftsbezug machen transzendente Elemente dieses geistigen Prinzips aus.

Außerdem treten mehrere alttestamentarische Elemente immer wieder in der Welt des Nationalismus auf.87 Es wird vom „auserwählten Volk“ oder „gelobten heiligen Land“ gesprochen.88 Jemand, der das heilsgeschichtlich priviligierte Volk infrage stellt, wird als Bedrohung eingestuft und zum Todfeind erklärt. Auch das Vertrauen auf einen zukünftigen Messias oder Heiland, der die Nation führe ist ein Motiv des Nationalismus.89 Die Idee der Brüderlichkeit findet sich ebenfalls im Christentum und in der Idee der Nation wieder. Die Mitglieder der Nation sollen brüderlich vereint sein.90 Die Herkunft der Nation wird, wie bereits erwähnt, durch einen linearen Abstammungsmythos aufgewertet. Damit wird auf das Beispiel der biblischen Legende von Moses und seinem Stamm verwiesen.91

Auch heilige Texte, wie beispielsweise die amerikanische Verfassungsurkunde, können innerhalb einer Nation entstehen.92

Aufgrund all dieser Annahmen stellt auch der Kultursoziologe Norbert Elias fest: Der Nationalismus sei „eines der mächtigsten, wenn nicht das mächtigste soziale Glaubenssystem des 19. und 20. Jahrhunderts“.93

2.2 Was ist ein Staat?




In Abgrenzung zum Begriff der Nation, soll hier nun erörtert werden, was unter der Bezeichnung Staat zu verstehen ist. Dazu kann bereits zu Anfang gesagt werden, dass der Staat in Bezug zur Nation quasi als Verwaltungseinheit der Letzteren fungiert.

Der Staat ist zunächst als Typ eines Gemeinwesens zu klassifizieren. Daneben existieren nach Reinhard noch zwei weitere Haupttypen, und zwar Reiche und Republiken.94 Dieser Einteilung folgt auch Machiavelli, wenn er von Fürstenherrschaften und Republiken spricht.95 In Reichen kam es in der Regel nicht zu einer Homogenisierung von Territorien oder Bevölkerung und ethnische, sowie sprachliche Unterschiede, spielten eine untergeordnete Rolle. Weiterhin handelte es sich bei Reichen um Gebilde aus Ländern mit unterschiedlichem Status - nicht so im Staat.96

Der Staat kann aufgrund seiner Entstehungsgeschichte in erster Linie als Machtstaat klassifiziert werden. Dem Beginn des organisierten Gemeinwesens, aus welchem sich der moderne Staat entwickeln habe, liege Reinhard zufolge das Machtstreben zu Grunde. Mündet das Machtstreben in Erfolg und Akzeptanz, werde Macht zur Herrschaft, die durch die Bildung politischer Institutionen gesichert und verteidigt wird.97 Die wichtigste Voraussetzung für die Entstehung des modernen Staates sei der kontinuierliche effiziente Machtwille, wie er in Dynastien zum Ausdruck kommen konnte.98 Eine weitere wichtige Rolle spielten die Machteliten, die die Durchsetzung der Herrschaft erst ermöglichten.99 Die Absicht einen modernen Staat zu begründen habe dabei jedoch nie bestanden. Die Politik des Machtgewinns zog diese Entwicklung folglich aber nach sich.100 Reinhard erscheint die Begründung des modernen Staates auf dieser Grundlage wirklichkeitsnäher, als „die Versuche, den Staat auf einen fiktiven Gesellschaftsvertrag, auf den Wertekonsens einer Gesellschaft oder auf Angebot und Nachfrage eines freien Marktes zurückzuführen“.101 Aufgrund der Konkurrenz unter (neu gegründeten) Staaten, habe es zu Kriegen geführt, die aufgrund steigender Kriegskosten erforderten, dass alle Ressourcen des Staates ausgeschöpft werden mussten, wozu zunehmende Kontrollen nötig wurden, die im Endeffekt in einer Zentralgewalt mündeten.102 Aus diesem Grund konstatiert Reinhard: „Als Machtstaat ist der moderne Staat seinem Ursprung nach Kriegsstaat.“103

Der moderne Staat gilt als Satz von Institutionen, der sich selbst legitimiert und so zum Selbstzweck geworden ist.104 Der Staat kann durch folgende Eigenschaften von anderen vormodernen Gemeinwesen unterschieden werden:

    1.  Er umfasst ein einheitliches Staatsgebiet105
    2. In dem Staat lebt ein einheitliches Staatsvolk. Damit ist zunächst lediglich ein sesshafter Personenverband, der denselben Status genießt, gemeint und nicht die ethnisch-kulturelle Einheit.106
    3.  Die einheitliche Staatsgewalt ist in Besitz der Souveränität (einziger Ausgangspunkt der Staatsgewalt) und verfügt damit einhergehend über:
    4.  Das Gewaltmonopol im Inneren des Staates107 und
    5.  das Gewaltmonopol nach Außen108
    6.  Der moderne Staat ist ein Rechts- und Verfassungsstaat, was bedeutet, das ihm das Rechtsmonopol zusteht.
    7.  Der modernen Staat ist ein Nationalstaat.109 Das ist er dann, wenn die Staatsgewalt als „Vollstrecker eines einheitlichen nationalen Willens“ auftritt.110
    8.  Der moderne Staat ist eine Demokratie. Das heißt, dass eine parlamentarische Komponente vorhanden vorhanden sein muss und der Staat sich sich zur Volkssouveränität bekennt.11

    Im Folgenden sollen nun einige Begriffskonstellationen erörtert werden, die das Element des Staates in sich tragen.

    Zum einen gibt es zwei Ausprägungen der Nation. Man spricht von der Staats- und Kulturnation. Die Bezeichnung Staatsnation galt zunächst als Leitbegriff der politischen Führungsschichten.115 Durch den Wegfall der Ständegesellschaft entstand die „Volksnation“. Die Vereinigung der Begriffe „Volk“ und „Nation“ geht auf die Entwicklung zurück, dass nicht mehr nur die politisch Handlenden des ersten und zweiten Standes, die Nation bildeten, sondern der dritte Stand die Nation repräsentierte.116

    Wenn man von der Nation als Kultur- und Sprachgemeinschaft spricht, wird der Begriff Kulturnation verwendet. Die Arroganz der deutschen Bildungsidee á la „am deutschen Wesen soll die Welt genesen“ stellte jedoch (noch) nicht das Programm eines imperialen Nationalismus dar,117 sondern das kulturelles Band der Gebildeten.118

    Von einem Nationalstaat ist dann, die Rede, wenn das Volk eins mit der Nation ist und sich als kulturelle und politische Gemeinschaft sieht.119 Das Fundament des Nationalstaats ist die Identifikation seiner Bürger mit ihm, wozu der Nationalismus sein Übriges leistet.120

    Der geschlossene Nationalstaat als politisches Standartmodell ist nichts anderes als eine Fiktion.121 Bei einer Untersuchung von 132 Staaten im Jahr 1971, stellte sich heraus, dass in nur knapp 10% aller Staaten ein bis zu 90% einheitliches Staatsvolk lebt. In knapp 35% aller Staaten machen nationale Minderheiten über 50% der Bevölkerung aus.122 Bis heute dürfte sich diese Zahl aufgrund anhaltender Migrationsströmen sogar noch verstärkt haben.

    Eine Besonderheit, was die Verwendung des Begriffs „Staat“ betrifft, konstatiert Reinhard in Deutschland: Bis heute bestünden „erhebliche Restbestände einer nahezu religiösen Andacht zum Staate.“123 Hauptsächlich in Deutschland werde der Terminus des Staates bevorzugt verwendet, wohingegen man in andern Ländern eher von der „Regierung“, der „Nation“, oder „Republik“ spreche.124

    Zusammenfassend lässt sich an dieser Stelle sagen, dass der Staat zunächst einmal nur auf der Notwendigkeit der Organisation eines Gemeinwesens fußt. Durch den Nationalismus wurde dem Staat ein Fundament gegeben, das ihn als einheitliches Gebilde darstellen soll und schließlich eine Nation bildet. Die Unterscheidung zwischen dem Staat als (neutraler) Organisator einer Gemeinschaft und dem Konstrukt der Nation zu treffen ist also aus historischer Sicht unumgänglich.

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